Würde in der Pflege - „Wie wollen wir leben?“ und „Wie wollen wir nicht leben?“

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ So beginnt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (A/RES/217, UN-Doc. 217/A-(III)) oder kurz AEMR). 

Auch in Medizin- und Pflegeethik spielt die Berufung auf die Menschenwürde eine herausragende Rolle. Wir verbinden Würde mit der Vorstellung, dass sie dem Menschen als Menschen zukommt, und oft wird postuliert, dass Würde unverfügbar, unantastbar und unverlierbar ist - aber ist die Würde wirklich unverlierbar? 
Zumal Menschen sagen, dass ihre Würde verletzt wird, ja diese Menschen sprechen von Würdeverlust - insbesondere bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit - darum geht es heute in meinem Artikel.

Einleitung

Verletzung und Verlust von Würde in Krankheit und Pflegesituation sind bzw waren durchgängige Worte und Gedanken meiner Frau gewesen über alle Jahre hinweg. Und nahmen auch an mehreren Abschnitten im Abschiedsbrief meiner Frau Platz ein. Waren auch ebenso in den Schriftstücken meiner Frau an die Ärzte und Helfer, die ihr auf dem Weg oder den Tag des Freitods gebeten wurden oder gebeten werden sollten ihr entweder 'nur' beizustehen oder zu helfen ein wesentlicher Punkt - oder vielmehr der wesentliche Punkt für ihren Entschluss dieses Leben, Leiden und Verlust der Würde nicht mehr durchleben zu wollen. 

Ich setzte das Wort nur im oberen Absatz sehr bewusst in Anführungsstriche. Weil ich in meinem Engagement in der Hilfe von Sterbewilliger eher häufiger als seltener erlebe, dass Sterbewillige ihren Wunsch / ihr Recht zu Sterben in eine Selbstverständlichkeit der Hilfe oder auch oftmals als Pflicht der Anderen / der Ärzte und Helfer interpretieren. Ich weiß nicht wie oft ich gehört habe: 'Der oder einer MUSS mir helfen!" ich frage mich oft ob diese Sterbewilligen nicht sehn wie unsagbar schwer ist diese Hilfe zu leisten. Ich will mit der Liste gar nicht erst starten da diese auch sehr individuell ist für den jeweiligen Helfer, die persönliche und umfassende Situation auch mit hineinspielt. So sieht es aber auch auch auf der Seite des Sterbewilligen aus. Gründe für das Sterben sind mannigfaltig und ebenso individuell - bestimmt und begleitet mit vielen umfassenden und mehr noch persönlichen und situativen Fakten, Aspekten und Gründen. Und hier steht wieder und wieder die Würde - die eigene Wahrnehmung. 

Aber ich bin etwas ausgeschweift um nun um so mehr auf die Würde in der Pflege zu kommen.


Würde 

Würde und Verletzlichkeit gehen jedoch immer Hand in Hand. Denn diese angeborene Eigenschaft hängt direkt von unserem emotionalen Gleichgewicht und unserem Selbstwertgefühl ab. Persönliche Würde ist eine angeborene Eigenschaft, sozusagen eine “Werkseinstellung”. Wie Martin Luther King einmal sagte, ist es egal, womit du deinen Lebensunterhalt verdienst, welche Hautfarbe du hast oder wie viel Geld du auf deinem Bankkonto hast. Wir alle haben Würde und wir alle haben die Fähigkeit, eine viel besseres Selbst, Umfeld und Gesellschaft aufzubauen, die auf der Anerkennung von sich selbst und anderen beruht.

In meinen Augen - und da war meine Frau und ich uns überaus ähnlich in diesem Verständnis - Würde ist etwas vollkommen Eigenes - Würde ist ein nicht übertragbarer, unbedingter, persönlicher und privater Wert ein Schatz den wir in uns und mit uns tragen - die uns IMMER begleitet.
Sie wird nicht verlassen oder verkauft - aber in Ausnahmesituationen, in Krankheit und leider oft in der Pflege kann das Gefühl oder gar die Gewissheit des Verloren gehen entstehen oder sich manifestieren.


Krankheit und Pflegebedürftigkeit.

Pflege zu brauchen, ist mit Erfahrungen und Spüren von Verlust verbunden. 

Verlust in Form von Rückgang, Verringerung, Ausfall, Wegfall, Ausbleiben etc. von körperliche und kognitive Fähigkeiten, von Unabhängigkeit, von Kontrolle über das eigene Leben. 

Hilfe bei der Körperpflege greift tief in die Privat- und Intimsphäre ein - dies war meiner Frau ein täglicher Ekel und Würdeverlust - und nochmals dies ist individuell und war für meine Frau ein täglicher Würdeverlust - die Worte die meine Frau hierfür wählte will ich und werde ich nicht wiedergeben, da es ihre Gefühle waren. An dieser Stelle sollte es jedem klar sein, dass keiner einem Anderen vorschreiben und vorwerfen darf, dass solche ein Eingriff in die Privat- und Intimsphäre in Krankheit oder Alter 'nun mal so ist'. Das mag dann für diese Menschen gelten oder Glaubensgruppen sein aber darf nicht Anderen übergestülpt werden.


Würdeverlust 

Erkrankung und Pflegebedarf werden als Entblößung erlebt – nicht nur äußerlich, sondern auch, was den inneren Kern der Person betrifft. Die vielen Rollen, die Menschen im Leben haben, werden auf die Patient*innen-Rolle reduziert. Die Leistungen, auf die sie stolz sind, das, was sie als Person ausmacht, verschwinden hinter dem Pflegebedarf. All das kann als Würdeverlust erlebt werden. Dass dem so ist, hat auch mit dem vorherrschenden Weltverhältnis und Menschenbild zu tun.

Wie am Anfang des Artikel schon angerissen - Die Menschenwürde verpflichtet uns, Menschen in einer bestimmten Art und Weise zu behandeln und ihre Rechte zu achten. Deshalb ist es aus meiner ethischen Haltung nicht nur relevant sondern unabdingbar, dass Menschenwürde als unverlierbar und unantastbar zu denken und zu betrachten ist. Ich schlage auch vor, statt von Würdeverlust und Würdebewahrung in der Pflege viel öfter von Missachtung und Achtung der Würde zu sprechen.


Würdeachtende Pflege

Für würdeachtende Pflege ist es wichtiger zu wissen, was für ein Mensch Pflegebedarf hat, als zu wissen, was für einen Pflegebedarf ein Mensch hat - und dies ist keine Wortklauberei.

Im Zentrum von Pflege muss die Person mit Pflegebedarf stehen. Muss die an die zupflegende Person gerichtete Frage: „Wie willst du leben?“ stehen.

Würdeachtende Pflege sorgt für die Selbstbestimmung von Menschen, die sich nicht in vollem Ausmaß um ihre Bedürfnisse und Interessen kümmern können.

Und um die Antwort auf die Frage „Wie willst du leben?“ und Antwort müssen sich ...

  • Pflegehandlungen ... individual-ethische Ebene
  • Pflegesettings ... organisations-ethische Ebene
  • Rahmenbedingungen ... sozial.ethische Ebene

drehen und Sorge tragen. 

Aber auch die Frage sollte folgen „Wie willst du nicht mehr leben?“ und Überlegungen und Ermöglichen, wenn als letzte Konsequenz gewünscht, eines Freitod.

Inwiefern und in welchem Ausmaß wir verpflichtet sind, anderen dabei zu helfen, ihre Bedürfnisse und Interessen zu verfolgen? Damit beschäftigt und muss sich beschäftigen die advokatorische, anwaltschaftliche, rechtsprechende Ethik und Gesellschaft.


Pflegesituation hinter dem Tellerrand

Und nochmals hier wie in früheren Artikeln zu diesem Thema ich übersehe dabei nicht Rahmenbedingungen bis hin zu den Pflegekräfte nicht

In der Praxis ist das freilich alles andere als einfach. Pflegekräfte geraten regelmäßig in Konfliktsituationen. Das sind zum einen Konflikte, die sich draus ergeben, dass Notwendigkeiten, Lebensrealität und Interessen kollidieren. Gegebenenfalls überspitz oder provozierend formuliert könnte man es in die Worte fassen: Menschen mit Pflegebedarf wollen nicht immer das, was aus fachlicher Sicht gut für sie wäre. 

Was hat Vorrang? Ihre Selbstbestimmung oder der Schutz ihrer Integrität? In konkreten Situationen muss abgewogen werden - aber der Wunsch und Würde eines Menschen darf nie vergessen werden. Zum anderen kommen Pflegekräfte in Konflikte mit dem System. Sie haben klare Vorstellungen, was zu tun wäre, um der Würde ihrer Pflegebedürftigen, Patient*innen, Bewohner*innen gerecht zu werden, können es aber nicht tun - aus oben gelistet Pflege- und Rahmenbedingen. 

Oder in meinen Worten weil diesen aus Personalmangel die Zeit fehlt. Weil im Fokus unseres Pflegesystems weniger der Mensch mit Pflegebedarf als Optimierungsprozesse, Standards und Dokumentationen aber auch profit- und rein betriebswirtschaftlich getriebene Interessen und Sichtweisen stehen.


Schlussgedanke

Die Verantwortung für würde-achtende Pflege liegt bei uns - bei jedem von uns - nicht auf den Schultern der Pflegekräfte und auch nicht nur bei der 'bösen Politik' - sondern in unserer Gesellschaft und wieder bei der Frage: „Wie wollen wir leben?“ und  „Wie wollen wir nicht leben?

Es braucht entsprechende Rahmenbedingungen. Hier sind nicht nur Trägerorganisationen, sondern Staat und Gesellschaft insgesamt in der Pflicht. Denn alle Menschen – Menschen mit Pflegebedarf und die, die sie pflegen – sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.



In diesem Kontext möchte ich meine Leser auf diesen Artikel hinweisen: Würdig Leben - Gedanken zur Pflegesituation vom November 2021






Comments

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