Wenn das Leben weiter will, aber der Körper nicht mehr kann: ME/CFS, Hoffnungslosigkeit und der stille Kampf um Würde
Denn bei Menschen mit ME/CFS entspringt der Wunsch nach einem selbstbestimmten Sterben nicht einem fehlenden Lebenswillen. Er entsteht aus einem unauflösbaren inneren Konflikt: dem tiefen Wunsch zu leben – und einem Leiden, das so extrem, so entwürdigend, so unversorgt ist, dass die Hoffnung selbst zur Belastung wird.
Dieser Konflikt ist kein Ausdruck von Lebensmüdigkeit. Er ist ein Hilfeschrei in einem System, das jene im Stich lässt, die am dringendsten Schutz brauchen.
Ein unsichtbares Leid – und ein System, das wegschaut
In Deutschland leben über 1,5 Millionen Menschen mit ME/CFS, Long Covid oder Post-Vac. Viele von ihnen sind schwer oder schwerst erkrankt. Einige liegen im Dunkeln, isoliert von jeder Berührung, jedem Geräusch, jedem Lichtstrahl – nicht aus freier Wahl, sondern weil ihr Körper keine Reize mehr tolerieren kann.
ME/CFS ist keine psychosomatische Erkrankung. Sie ist eine schwere, neuroimmunologische Krankheit, die Energie nicht nur raubt, sondern systematisch jede Lebensfunktion erschöpft.
Wer sie erlebt, spricht nicht von Müdigkeit, sondern von einem „Sterben bei vollem Bewusstsein“. Schon kleinste Anstrengungen können einen PEM-Crash *1 auslösen – ein Zustand, der sich über Tage, Wochen oder dauerhaft zieht.
Trotz klarer wissenschaftlicher Erkenntnisse fehlt nahezu alles, was ein würdiges Leben ermöglichen würde:
-
spezialisierte Versorgungszentren
-
zugelassene Medikamente
-
geschultes Personal
-
angemessene Pflege
-
ein gerechtes soziales Sicherungsnetz
Diese Lücke ist nicht theoretisch. Sie ist real und zerstört Existenzen und Leben.
*1 ... Ein PEM-Crash ist eines der zentralen und belastendsten Merkmale von ME/CFS. „PEM“ steht für Post-Exertional Malaise – auf Deutsch: Zustandsverschlechterung nach Belastung. Der Crash kommt nicht sofort, sondern oft mit einer Verzögerung von 12 bis 48 Stunden nach der Belastung – ein Grund, warum Außenstehende die Zusammenhänge oft nicht erkennen. Ein PEM-Crash ist ein schwerer, krankheitsbedingter Zusammenbruch nach minimaler Belastung (Massive Verschlimmerung aller Symptome, nachdem der Körper oder Geist minimal belastet wurde), der ME/CFS grundlegend von normaler Erschöpfung oder Burnout unterscheidet. Er ist einer der Hauptgründe, warum die Krankheit so lebensverändernd ist – und warum die Versorgung so entscheidend wäre.
Wenn Verzweiflung schwerer wiegt als die Angst vor dem Tod
Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) beobachtet einen erschütternden Trend: Immer mehr junge Menschen mit ME/CFS wenden sich an sie – nicht, weil sie sterben wollen, sondern weil sie keinen Weg mehr sehen, zu leben.
Unter ihnen sind mittlerweile Frauen zwischen 24 und 29 Jahren. Menschen in einem Alter, in dem Zukunftspläne selbstverständlich sein sollten. Mehrere Anfragen wurden bereits vermittelt, mehrere Freitodbegleitungen durchgeführt.
Die Anträge kommen nicht aus Hoffnungslosigkeit über das Leben an sich, sondern aus Hoffnungslosigkeit über ein System, das keinerlei Perspektiven bietet.
Eltern flehen darum, den Antrag ihrer Tochter nicht abzulehnen – nicht, weil sie den Wunsch verstehen, sondern weil sie das tägliche Leiden nicht länger ertragen können.
Der eigentliche Skandal ist nicht der Wunsch nach einem selbstbestimmten Sterben.
Der Skandal ist, dass dieser Wunsch überhaupt entsteht.
Erschütternde Beispiele: Wenn Hilfe Schaden anrichtet
Die Berichte, die ich am Ende verlinkt habe, zeigen ein klares Muster:
Notaufnahmen, die Betroffene abweisen. Ärzt*innen, die den Zustand als psychosomatisch abtun. Behandlungen, die durch Unwissen lebensgefährlich werden.
Eine 53-jährige Erkrankte erlebte jahrelange Verschlechterung, Atemnot, Fehlbehandlungen und Stigmatisierungen – bis sie im April 2025 keinen Ausweg mehr sah.
Eine 20-jährige Leistungssportlerin wurde durch Covid-Infektionen schwerst krank. Ohne Unterstützung, ohne Pflegegrad, ohne Diagnose – und schließlich durch Behördenfehler retraumatisiert. Licht eingeschaltet trotz Lichtempfindlichkeit. Mutismus *2 als „emotional“ fehlinterpretiert. Ein Hilfesystem, das zur Gefährdung wird.
Folgen: Verlust der Selbstständigkeit, vollständige Abhängigkeit - Sterbewünsche und oder Suizidgedanken.
Studien zeigen:
-
89 % fühlen sich nicht ernst genommen.
-
76 % erleben Stigmatisierung.
-
Suizid gehört zu den häufigsten Todesursachen bei ME/CFS.
Das ist kein Randthema. Es ist ein gesundheitspolitischer Notfall.
*2 ... Mutismus bedeutet, dass eine Person nicht spricht, obwohl sie körperlich dazu in der Lage wäre. Es handelt sich nicht um Trotz oder Absicht, sondern um einen psychologisch oder neurologisch bedingten Zustand
Zwischen Sterbehilfe und Sterbenshilfe: Was jetzt geschehen muss
Organisationen wie PiEr SH e.V., DGHS und weitere Fachgesellschaften sind sich einig:
Nicht der Freitod muss leichter werden. Das Leben muss lebbar werden.
Der Grundsatz ist klar: Versorgung vor Sterbehilfe.
Damit Menschen nicht sterben wollen, weil ihnen das Leben verweigert wird.
Die Forderungen sind umsetzbar:
-
Aufklärung und Schulung
Für medizinisches Personal, Pflege, Behörden, Schulen und Angehörige. -
Massiv mehr Forschung
Weit mehr Gelder und Resourcen für klinische Studien, Medikamente, Diagnostik und ein nationales Forschungszentrum. -
Tatsächliche Versorgung
Spezialisierte Zentren, Hausbesuche, Telemedizin, Palliativangebote, geschulte Teams – und ein Ende schädlicher Reha-Konzepte. -
Rechtsklarheit zur Sterbehilfe – aber nur als letzte Option
Das Recht auf assistierte Selbsttötung schützt die Würde.
Aber vorher muss der Staat alles tun, um das Leben zu schützen.
Menschen mit ME/CFS wollen leben. Sie brauchen nur eine reale Chance darauf.
Ein paar letzte Worte
Sterbehilfe ist immer eine Grenzfrage. Sie darf niemals der Ausweg aus politischer Gleichgültigkeit sein.
Betroffene sagen Sätze wie:
„Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte.“
„Ich fühle mich nirgends sicher.“
„Ich bin traurig, dass ich gehe – aber erleichtert, dass die Qual endet.“
Keiner dieser Sätze müsste existieren. Nicht, wenn Versorgung, Empathie und Forschung vorhanden wären.
Dann könnten Tausende Menschen eines Tages sagen: „Jetzt ist wieder Raum zum Atmen. Jetzt ist wieder Leben möglich.“
Nehmen Sie sich 5min für diesen Film und die Worte:
Pressekonferenz auf Instagram
Links zu Quellen:
Bundespressekonferenz_MECFS_12-2025.pdf
Präsentation der PiEr SH e.V. - ME/CFS neuroimmunologische Erkrankung
Ich veröffentliche keine Kommentare, lese aber jede einzelne Nachricht sorgfältig.
ReplyDeleteBitte habt Verständnis, dass ich selten unmittelbar antworte – meist fließen eure Fragen und Gedanken in künftige Beiträge ein, damit sie auch anderen helfen können.
Wenn ihr eine direkte Rückmeldung benötigt, schreibt bitte eure Kontaktdaten und den Grund dazu; ich prüfe dann behutsam, ob und wie ich antworten kann.
I don’t publish comments, but I read every single message carefully.
Please understand that I rarely respond directly — most questions and thoughts find their way into future posts, so they can help others as well.
If you need a personal reply, please include your contact information and the reason for your message; I will then carefully consider whether and how I can respond.