Die letzte Entscheidung: Was Menschen zur Sterbehilfe bewegt

Mein Verständnis vom Sterbewunsch und Freitod gründet auf einer intensiven, persönlichen Auseinandersetzung mit meinem Selbstbild, meinen Werten und meiner Definition von Leben, Glück und Würde.

Ich habe für mich vier existenzielle Leitsätze formuliert:

    „So will ich leben.“
    „So ist für mich OK zu leben.“
    „So kann ich akzeptieren zu leben.“
    „So will ich nicht leben, da es nur noch existieren wäre.“

Diese innere Klärung war Ausgangspunkt für eine vertiefte Recherche: Wie gehen andere Gesellschaften, Länder und Gesundheitssysteme mit dem Sterbewunsch um? Wie hoch ist die Zahl derer, die sich aktiv für einen begleiteten Freitod entscheiden? Und vor allem: Warum?

In meiner Auseinandersetzung mit der Situation in Deutschland, nach dem Urteil in 2020 vor 5 Jahren - mit Deutschland, den Niederlanden, Belgien , der Schweiz, Kanada und Oregon (USA) wurde deutlich: Die Motive, die Menschen zur Sterbehilfe bewegen, ähneln sich weltweit – unabhängig von Rechtssystemen oder Kulturen.



Diagnosen und Gründe (weltweit)

Häufigsten Diagnosen bei Sterbehilfe und MAID (Mehrfach Diagnosen waren möglich)

80 - 60 % Krebs
20 - 10 % Neurologische Erkrankungen und Störungen
15 - 5 % Multiple geriatrische Syndrome
10 - 5 % Herz-Kreislauf-Erkrankungen


Gründe für den Antrag auf Sterbehilfe und MAID (Mehrfach Nennung war möglich)

90 - 50 % Verlust der Autonomie, von Kontrolle und Unabhängigkeit
80 - 60 % Krankheitsbedingtes Leiden (Schmerzen, Übelkeit etc.)
60 - 50 % Verlust der Fähigkeit, angenehme und sinnvolle Aktivitäten auszuführen
60 - 50 % Angst vor zukünftigem Leid
50 - 25 % Frühere negative Erfahrungen mit Tod und Sterben


Quellen:

Netherlands - Regional Euthanasia Review Committees

Canada - Medical assistance in dying 

Oregon’s Death with Dignity Act

Sterbehilfe-Touristen in der Schweiz nach Herkunftsländern 2021 | Statista

Selbstmord und Sterbehilfe – Zahlen und Statistiken | Statista

Europäische Union: Anzahl der Sterbefälle in den Mitgliedstaaten im Jahr 2021

Europäische Union: Sterberaten in den Mitgliedstaaten im Jahr 2021

Statistiken zu Selbstmord und Sterbehilfe (2021 / 2022)

Freitodbegleitung: Die neuen Zahlen 02/2024 - DGHS




Weitere Details
zu Deutschland, Niederlande, Belgien und Schweiz



Deutschland


Fälle nach Jahren

Anzahl der Fälle der letzten Jahre

DGHS
2024 = 623 Freitodbegleitungen
2023 = 419 Freitodbegleitungen
2022 = 229 Freitodbegleitungen
2021 = 120 Freitodbegleitungen


Sterbehilfe Deutschland
2024 = 171 Freitodbegleitungen
2023 = 196 Freitodbegleitungen
2022 = 139 Freitodbegleitungen
2021 = 129 Freitodbegleitungen


Dignitas Deutschland
2024 = 183 Freitodbegleitungen
2023 = 257 Freitodbegleitungen


Jahr      DGHS         Dignitas         Verein Sterbehilfe       Gesamt       Gesamt, plus Fälle außerhalb von den Vereinen
2022      229     199         139       368       ...
2023      419      257         196       872       ca. 1000
2024      623      183         171       977       c. 1200

 
In Summe ca. 977 dokumentierte Sterbehilfefällen in 2024  -  Zusätzlich könnten etwa 200 weitere Fälle außerhalb dieser Organisationen existieren, schätzungsweise ≈ 1.200 insgesamt .


Häufigste Ursachen (2024)

Primärmotive waren:

  • Multimorbidität (mehrere chronische Krankheiten): 28 %   (Angabe DGHS)

  • Lebenssattheit: 22 %  (Angabe DGHS)

  • Krebserkrankung: 22 %  (Angabe DGHS)

  • Neurologische Erkrankungen: 15 %  (Angabe DGHS)

  • Psychiatrische Diagnose: Nur „wenige Personen“ hatten eine psychiatrische Diagnose als primären Beweggrund. Genauere Zahlen nennt die DGHS nicht, verweist aber darauf, dass es sich um „einstellige Bereiche“ handelt. Dignitas nennt keine Zahlen und verweist darau, dass Menschen mit sehr schwerer psychischer Erkrankung ein psychiatrisches Gutachten beibringen müssen. Verein Sterbehilfe (Hamburg) meldete nur für 2021: von 129 Freitodbegleitungen waren 7 psychisch motiviert, Angabe zu 2024 keine.

    Nur bei wenigen Organisationen (DGHS, Sterbehilfe Deutschland) sind konkrete Zahlen zu psychisch motivierten Fällen bekannt – meist einstellig, die sgilt auch für die meisten anderen Länder, dies ist selbsterklärend da die Urteilsfähigkeit unzweifelhaft sein muss.

    Ergänzender Hinweis - Die DGHS hat in 2023, 21 Anträge wg. Psychiatrischer Erkrankung abgelehnt. Sterbehilfe Deutschland ~11 % Anträge abgelehnt. Dignitas keine Angaben. Die Dignitas verweist auf die Psychischen Gutachten die nötig sind, wie bei jedem Verein und jedem Helfenden.


Geschlechterverteilung

Bei der DGHS lag der Frauenanteil 2024 bei 62 %, Männer bei 38 % 
Bei Dignitas und dem Verein Sterbehilfe sind keine detaillierten Angaben verfügbar; aber insgesamt zeigt sich ein klar höherer Anteil bei Frauen.
Das "Register Suizidassistenz" des 
DFG-Netzwerk , eine Initiative der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), hat eine Umfrage gestartet, hier einige frühen und vorläufigen Ergebnisse und nachfolgend finden Sie den Link zur Umfrage die etwa 5-15min benötigt - Register der Sterbehilfe des DFG-Netzwerk


Ausländische Staatsbürger

Es liegen keine detaillierten Zahlen zu ausländischen Freitodwilligen in Deutschland vor.
Erwähnt wird lediglich, dass laut Statistischem Bundesamt Ausländer nicht separat ausgewiesen sind.


Fazit

  • Steigende Zahlen: Von ca. 368 Fällen (2022) über 872 (2023) bis 977 (2024); inklusive womöglich ~1.200 insgesamt ─ ein moderater Anstieg nach Legalisierung seit 2020.

  • Ursachen: Multimorbidität belegt Spitzenposition, gefolgt von Lebenssattheit, Krebs und neurologischen Erkrankungen.

  • Geschlecht: Frauen stellen den Großteil (62 %).

  • Ausländer: Fehlen systematisch; keine klaren Statistiken zur Herkunft.

  • Kontext: Die Zahlen sind weiterhin vergleichsweise niedrig (unter 0,1 % aller Todesfälle), aber ein klarer Trend erkennbar; gesetzliche Rahmenbedingungen bleiben uneinheitlich und organisationsabhängig 






Niederlande


Anzahl der Fälle

  • 9.958 Fälle: Im Jahr 2024 wurden in den Niederlanden 9.958 Sterbehilfefälle registriert, ein Anstieg von ca. 10 % gegenüber dem Vorjahr. Das entspricht etwa 5,8 % aller Todesfälle.
    (Quelle)

Häufigste Ursachen für 2024

  • Krebs: ca. 53,7 %  (für die Krebsarten gibt es ca.-Zahlen aus den Niederlande, die sich wie folgt verteilen: Lungenkrebs ca. 43 %, Darmkrebs 26,5 %, Brustkrebs 11,6 %, Prostatakrebs 9,4 %, Pankreaskrebs 9,6 %)

  • Polypathologien (mehrere schwere Erkrankungen): ca. 18 %

  • Neurologische Erkrankungen (z. B. Parkinson): ca. 6,8 %

  • Psychische Erkrankungen: ca. 2,2%  ... 219 Fälle (darunter ca. 30 unter 30 Jahre)

Geschlechterverteilung

  • Keine spezifischen Angaben verfügbar

Ausländische Staatsbürger

  • Zahlen speziell für ausländische Patienten in den Niederlanden 2024 ist nicht verfügbar.
    Ausländer können prinzipiell in den Niederlanden Sterbehilfe beantragen, wenn sie die Kriterien erfüllen und vom behandelnden Arzt betreut werden. Netherlands - Regional Euthanasia Review Committees. Allerdings ist das in der Praxis selten, weil man in der Regel ein behandelnder Patient in den Niederlanden sein muss. Tourismus für Sterbehilfe (so genanntes „Sterbehilfe-Tourismus“) ist verboten.

Fazit

  • Die Sterbehilfe-Fälle steigen weiter, vor allem bei Patienten mit psychischen Leiden, was gesellschaftlich intensiv diskutiert wird. Mehr zur Niederlande






Belgien


Anzahl der Fälle

  • 3.991 Fälle: Im Jahr 2024 wurden 3.991 Sterbehilfefälle registriert (ca. 3,6 % aller Todesfälle), ein Anstieg von etwa 16,6 %.

Häufigste Ursachen

  • Krebs: ca. 54 % (Bei Krebsbedingten Fällen machen Verdauungs-, Atemwegs- und Brustkrebs ca. 60  % aus, so die Studien für Belgien)

  • Polypathologien: ca. 21,5 %

  • Neurologische Erkrankungen: ca. 9,3 %

  • Kardiovaskuläre Erkrankungen: ca. 3,4 %

  • Kognitive Störungen: ca. 1,3 %

  • Psychische Erkrankungen: ca. 1,2 %


Geschlechterverteilung

  • Keine spezifischen Angaben verfügbar


Ausländische Staatsbürger

  • 120 ausländische Patienten nahmen Sterbehilfe in Anspruch, davon 106 aus Frankreich, weitere aus Deutschland, Niederlande, Spanien, Ungarn, Portugal, Großbritannien


Fazit

  • Steigende Zahl der Fälle, vor allem bei Patienten mit multiplen schweren Erkrankungen

  • Zunehmend mehr ausländische Patienten, v.a. aus Frankreich

  • Mehr zu Belgien




Schweiz


Anzahl der Fälle

  • 1.594 Fälle in 2022 (aktuelle Zahlen für 2024 liegen noch nicht vor)

Häufigste Ursachen

  • Krebs: ca. 39 %  (für die Krebsarten gibt es ca.-Zahlen aus der Schweiz, die sich wie folgt verteilen: Lungenkrebs ca. 40-45 %, Darmkrebs 24-27 %, Brustkrebs 5-6 %, Prostatakrebs 7-9 %, Pankreaskrebs 6-10 %)

  • Neurodegenerative Erkrankungen: ca. 13 %

  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen: ca. 12 %

  • Andere Erkrankungen (chronische Schmerzen, Demenz, Depression etc.): ca. 35 %


Geschlechterverteilung

  • Frauen: 59 %

  • Männer: 41 %


Ausländische Staatsbürger

  • Für 2022: ca. 190 ausländische Patienten, vor allem aus Frankreich, Großbritannien, Italien

  • Für 2024 keine aktuellen Daten verfügbar


Fazit

  • Anzahl assistierter Sterbehilfefälle steigt, Frauen häufiger gehen den Weg häufiger

  • Viele ausländische Patienten reisen in die Schweiz für ein assistierten Sterben

  • Mehr zur Schweiz






Fazit


Die weltweiten Daten zeigen ein weitgehend übereinstimmendes Bild:
Krebserkrankungen, neurologische Leiden, Multimorbidität und die Angst vor einem Verlust der Autonomie sind die häufigsten Gründe für den Wunsch nach assistiertem Sterben oder auch , wenn erlaubt, aktiver Sterbehilfe - In Ländern wie Belgien und den Niederlanden machen diese Fälle mittlerweile 3–6 % aller Todesfälle aus, mit jährlich steigender Tendenz.

In Deutschland ist die Zahl der begleiteten Freitod nach der rechtlichen Öffnung durch das Bundesverfassungsgericht (2020) ebenfalls gestiegen auf etwa 1.200 im Jahr 2024, wobei ein deutlicher Anteil auf ältere Frauen mit multiplen Erkrankungen entfällt.

Die häufigsten Beweggründe:
  • Der Verlust von Selbstbestimmung
  • Der Abschied von Sinn und Freude
  • Die Angst vor unkontrollierbarem Leiden
Was die Zahlen und Erfahrungen aus allen Ländern gemeinsam zeigen: Der Wunsch, das eigene Lebensende bewusst, würdevoll und selbstbestimmt zu gestalten, ist kein Ausnahmefall – sondern eine menschlich nachvollziehbare Entscheidung, die wachsendes gesellschaftliches Verständnis findet. Unter dem Tag Umfragen finden Sie Ergebnisse zu Umfragen zur Akzeptanz und Unterstützung der Sterbehilfe.

Was mich persönlich berührt, ist, wie sehr diese Gründe mit meinem eigenen Werteempfinden resonieren - einher gehen mit dem meiner Frau die ihren Weg gehen konnte, mit denen der Menschen die ich in meiner Arbeit kennen lernen kann und darf.
Es geht nicht um ein "Wegwerfen", "Weglaufen", "Entfliehen" oder  "Flucht" aus dem Lebens – sondern um eine letzte bewusste Entscheidung - - einen Weg, einem höchst persönlichen Weg: 
  • Für Menschenwürde. 
  • Für Autonomie. 
  • Für ein Sterben, das dem Leben nicht widerspricht, sondern es vollendet.
Ein Weg den man gegangen ist und einen Weg den man für sich und nicht gegen sich wählt. Einen Blick zurück und nach vorne - darum auch mein Bild dazu.







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