Zahlen und Fakten zur Sterbehilfe / Freitodbegleitung in Deutschland - Diagnosen, Gründe, Entwicklungen 2021–2024

Meine Auseinandersetzung mit dem Thema Sterbewunsch und Freitod ist seit Jahren tiefgehend.
Ich versuche mich nicht nur an ethische und philosophische Fragesätzen („So will ich leben“, „So kann ich leben“ etc. ), sondern suche auch nach und schaue auf realen Erfahrungen und Daten:
Wer nutzt Sterbehilfe?
Aus welchen Gründen?
Welche Trends lassen sich erkennen?
Dieser Artikel liefert eine aktualisierte Bestandsaufnahme mit den verfügbaren Daten, ergänzt durch in Studien belegte Einsichten.

Die Entscheidungen zum assistierten Sterben sind in der Regel komplex und multiperspektivisch motiviert – weit mehr als nur körperliches Leiden. Die Weiterentwicklung von Gesetz, Beratung, Transparenz und Forschung wird entscheidend sein, um ethisch vertretbare und menschlich angemessene Gestaltung zu ermöglichen.


1. Diagnosen, Gründe und Motivationen

1.1 Ergebnisse aus wissenschaftlichen Studien

Es existiert bisher nur begrenzt umfangreiche Forschung, insbesondere für neuere Jahre. Eine oft zitierte Studie analysierte 118 Fälle (2010–2013) der Organisation „Sterbehilfe Deutschland“ und untersuchte medizinische Diagnosen und motivationale Hintergründe:

  • 25,6 % der Fälle betrafen metastasierenden Krebs,

  • 20,5 % neurologische Erkrankungen,

  • 23 % Alterskrankheiten / Behinderungen,

  • 14,5 % primär psychiatrische Diagnosen,

  • 7,7 % Menschen ohne schwere Erkrankung.


Als wichtigste Beweggründe wurden genannt:
  • Verlust von Lebensaussicht angesichts schwerer Krankheit (~29 %)
  • Angst vor Pflegeabhängigkeit / Abhängigkeit (~23,9 %)
  • Lebensmüdigkeit bzw. Erschöpfung trotz nicht notwendigerweise schwerer Krankheit (~20,5 %)
  • Nur ~12,8 % nannten unerträgliche, nicht behandelbare Symptome als Hauptmotiv

Diese Ergebnisse verdeutlichen:
Nicht immer stehen körperlich unerträgliche Symptome im Vordergrund, sondern oft Sorgen um Autonomie, Pflegeabhängigkeit oder der Verlust von Lebensperspektive.


Neuere Untersuchungen und Studien kommen zu sehr ähnliche Zahlen

Neuere Untersuchungen nehmen Diagnosen und Einstellungen differenzierter in den Blick. So zeigt eine 2025 erschienene Studie, wie unterschiedlich Menschen auf Sterbehilfe reagieren, abhängig von der Diagnose (z. B. Krebserkrankung vs. psychische Krankheit) – mit deutlichen Unterschieden in emotionaler Reaktion und Unterstützungsperspektive.

Auch im internationalen Kontext lohnt ein Blick: In Belgien stieg z. B. der Anteil von Fällen mit psychiatrischen Erkrankungen oder Demenz über die Jahre moderat an, was oft im Rahmen der Debatte diskutiert wird.


1.2 Häufig zitierte Verteilungen (als Orientierung)

Auf Basis von gesammelten Angaben und Studien läßt sich eine grobe Verteilungen der triggernden Erkrankungen  nennen — diese sind nicht universell gültig:

KategorieAnteil (geschätzt)Bemerkung
Krebserkrankungen20 – 30 %In vielen Fällen einer der Hauptfaktoren
Neurologische Erkrankungen / degenerative Erkrankungen10 – 22 %Insbesondere bei Erkrankungen mit fortschreitendem Funktionsverlust
Multimorbidität / geriatrische Syndrome20 – 30 %Viele Menschen haben mehrere chronische Erkrankungen zugleich
Psychiatrische Erkrankungen (als Hauptmotiv)< 10–15 %Relativ selten in den assistierten Fällen, oft mit hoher Prüfung
Menschen ohne schwere Erkrankung (Lebenssattheit)kleiner AnteilNach den Studien < 10 %


Zu den Erkrankungen und Hauptmotive sind in der Regel immer weitere Gründe genannt worden (Mehrfachnennungen waren möglich):

  • Verlust von Autonomie, Kontrolle, Unabhängigkeit

  • Angst vor Pflegeabhängigkeit

  • Verlust der Fähigkeit, sinnvolle und angenehme Aktivitäten auszuführen

  • Erwartung oder Furcht vor zukünftigen Leiden

  • Erschöpfung, Lebensmüdigkeit, Hoffnungslosigkeit

  • frühere negative Erfahrungen mit Tod, Verlust, Pflege

  • Existenzielle Gründe: kein Lebenssinn mehr, Gefühl von Gewesen sein

Diese Ursachen, Motive, und Verteilungen decken sich weitgehend mit vielen Berichten von Organisationen und Beratungseinrichtungen.




2. Gesetzlicher und gesellschaftlicher Rahmen

Ein zentraler Wendepunkt war, für Deutschland wenig verwunderlich, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2020: Es entschied, dass das Sterben in Selbstbestimmung und Hilfe Dritter Teil eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist. Damit wurde ein generelles Verbot organisierter Sterbehilfeassistenz aufgehoben. Seitdem steigt die öffentliche Debatte und die praktische Umsetzung von Sterbehilfeangeboten.

In Deutschland ist aktive Sterbehilfe (also Töten auf Verlangen, z. B. durch eine ärztliche Spritze) weiterhin strafbar. Legitime Formen der Sterbehilfe bewegen sich juristisch oft in den Bereichen der assistierten Sterbehilfe (Sterbewilliger führt selbst aus) und der Vermittlung solcher Assistenz.

Die Haltung von Fachkräften, Hospizen, Palliativmedizinern und Betreuungsinstitutionen ist unterschiedlich. Eine Umfrage unter Hospizprofessionellen in Deutschland zeigte: Manche Gruppen sind grundsätzlich aufgeschlossen, andere eher ablehnend oder belastet mit ethischen Konflikten und emotionaler Herausforderung.

Darüber hinaus ist die gesellschaftliche Einstellung zu psychiatrischer Sterbehilfe kontrovers: Eine deutsche Bevölkerungsstudie ergab, dass nur ca. 19 % der Bevölkerung assistierten Sterbehilfe bei schweren, therapieresistenten psychischen Erkrankungen befürworten. Dabei korrelierte Zustimmung mit stärkerem Stigma gegenüber psychisch Erkrankten.

Weitere Beiträge auf meinem Blog zu Studien und Umfragen und Zahlen




3. Zahlen zu Freitodbegleitungen in Deutschland 2021–2024

Basierend auf Daten von DGHS, Sterbehilfe Deutschland, Dignitas Deutschland und Schätzungen:

3.1 Fallzahlen je Organisation & Gesamtbetrachtung

JahrDGHS  Sterbehilfe Deutschland  Dignitas Deutschland  Summe (Sterbehilfevereine)  Geschätzte Gesamtzahl
2021  ~ 120ca. 129~ 97~ 346
2022  229139unbekannt
2023  418196257977
2024  623171183977ca. 1.200

... oder in Worten:

  • Die drei Organisationen in Deutschland zusammen meldeten für 2024 = 977 Fälle (623 + 171 + 183). 

  • Ausgehend von Erfahrungswerten schätzt die DGHS, dass zusätzlich 200–250 weitere Freitodbegleitungen durch einzelne Ärzte oder Personen außerhalb von Organisationen stattfanden, womit man auf insgesamt etwa 1.200 Fälle bundesweit kommt. 


3.2 Weitere Beobachtungen & Trends

  • Bei der DGHS nahm 2024 auch die Zahl von gemeinsamen Freitodbegleitungen zu: 38 Fälle (Paare, die gemeinsam begleitet sterben wollten), etwa dreimal so viele wie im Vorjahr.

  • 18 der 623 Freitodbegleitungen (2024) fanden in stationären Einrichtungen statt (z. B. Pflegeheime). Darunter: 13 in privaten Einrichtungen, 3 evangelisch, 2 katholisch. 

  • Die DGHS rechnet damit, dass künftig eine Sättigung der Nachfrage eintritt und die jährlichen Gesamtzahlen sich zwischen 1.000 und 1.500 Fällen stabilisieren könnten.

  • Manche Sterbehilfeorganisationen (Sterbehilfe Deutschland, Dignitas) berichten Rückgänge 2024, obwohl der Gesamttrend ansteigend ist – was auf Verlagerung hin zur größeren Organisation (DGHS) oder auf Kapazitätsgrenzen hindeuten könnte. Oder aber dass verstärkt auch kommerzielle Anbieter Sterbehilfe vermitteln. (Siehe Artikel: Q&A - Wo findet man Sterbehilfe in Deutschland?)


3.3 Relativierung im Verhältnis zu Suizidstatistiken

Die assistierten Sterbehilfe machen belegt durch diese Zahlen einen relativen kleinen Anteil im Verhältnis zur Gesamtzahl der Suizide bzw. Todesfälle aus. Fowid etwa nannte (wie auch ich oben) für 2024 eine geschätzte Zahl von assistierten Sterbehilfe von 977 und weist darauf hin, dass dies 0,097 % aller Todesfälle in Deutschland seien. 

Oder schaut man sich die in  2024 etwa die dokumentierten  977 Freitodbegleitungen bundesweit an – bei etwa 10.500 dokumentierten  Suiziden - ist auch diese Zahl relativ klein.  (Siehe eine Grafik dazu)




4. Vergleich mit Auslandsmodellen & internationale Perspektive

  • In Belgien steigt der Anteil von Sterbehilfeanträgen bei Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen oder Demenz über die Jahre moderat. Dennoch bleiben diese Fälle prozentual klein.

  • In Ländern wie den Niederlanden oder Kanada sind umfangreichere Daten verfügbar, z. B. zu Diagnosen, Lebensqualität, Verlauf – jedoch sind sie nicht immer direkt vergleichbar mit deutschen Kontexten, wegen unterschiedlicher gesetzlicher Regeln, Gesundheits‑ und Versorgungssysteme.

  • Ein genereller Befund aus Studien international: Die zentralen Motive für Sterbewünsche sind ähnlich: Autonomieverlust, Unabhängigkeitsverlust, Angst vor zukünftigen Leiden, Verlust von Lebensfreude / Lebensqualität, und nicht allein physische Symptome.




5. Einschätzung, offene Fragen & Ausblick

5.1 Interpretation & Bedeutung

  • Der Anstieg der dokumentierten Fälle (Organisationen) seit 2021 deutet auf eine wachsende Nachfrage und stärkere institutionelle Strukturen.

  • Dennoch bleiben assistierte Sterbefälle – nach aktuellen Schätzungen – nur ein kleiner Teil im größeren Kontext der Sttatistiken von Sterbefällen.

  • Viele Antragsteller*innen sind hochbetagt und multimorbid – das spricht für eine Rolle von Alter, chronischer Krankheit, funktionalem Abbau und Lebensmüdigkeit als zentrale Einflussgrößen.

  • Psychiatrische Erkrankungen als alleiniger Beweggrund sind selten und erfordern eine Prüfung. Diese Prüfiungen sind notwendig, so dass mit höchstmöglicher Sicherheit gewährleistet ist, dass die Erkrankung keinen willensbeeinflussenden Einfluss auf die Entscheidungsfindung des Betroffenen ausübt – so dass Sterbewillige wie auch Helfende und Behandelnde sich sicher sind welche Hilfe gegeben werden kann - ob es sich um einen Suizid oder Freitod handelt.

  • Die Schätzungen über nicht organisierte Fälle (durch einzelne Ärzt*innen) bleiben unsicher und sollten mit Vorsicht behandelt werden.

5.2 Wichtige offene Fragen & Forschungslücken

  1. Aktuelle Diagnosen / Motive ab 2020+
    Viele Studien basieren auf älteren Datensätzen. Es fehlen groß angelegte, aktuelle Untersuchungen (2022–2025), die Diagnosen und Motivlagen bei assistierten Sterbebegleitungen systematisch erfassen.

  2. Unorganisierte Fälle besser erfassen
    Wie viele Freitodbegleitungen geschehen außerhalb der großen Organisationen? Systematische Erfassung und Transparenz sind oft schwierig, da solche Fälle selten registriert werden.

  3. Qualität der Begleit- und Beratungsprozesse
    Wie gut sind die Prüfungs- und Unterstützungsprozesse (vier Augen, psychiatrische Gutachten, Begleitung vor/nach dem Freitod)? Wie wird Missbrauch verhindert?

  4. Langzeitwirkung auf Angehörige / Umfeld
    Welche psychischen Belastungen entstehen für Angehörige, Pflegepersonal, Ersthelfer? Welche Präventions- und Nachsorgeangebote existieren?

  5. Rechtliche Rahmensetzung & politische Regulierung
    Wie lässt sich ein rechtssicherer Rahmen gestalten, der sowohl Selbstbestimmung schützt als auch vulnerable Gruppen schützt?

  6. Gesellschaftliche Wahrnehmung und Normen
    Wie verändert sich die Einstellung in der Bevölkerung weiter, insbesondere in Bezug auf Sterbehilfe bei psychischen Erkrankungen?

5.3 Möglicher Ausblick für die Jahre nach 2025+

  • Es ist anzunehmen, dass die jährlichen Fallzahlen auf einem Plateau zwischen 1.000 und 1.500 pendeln könnten, sofern keine strukturellen Änderungen eintreten (z. B. neue Gesetze, Infrastruktur, Versorgungszugänge).

  • Intensivierung von Forschung, insbesondere zur Qualität der Prozesse und zu psychisch vulnerablen Gruppen, wird entscheidend sein.

  • Gesellschaftliche und ethische Diskussionen, besonders über Sterbehilfe bei psychischen Erkrankungen, werden weiter intensiv geführt werden.

  • Ausbau der Sterbehilfe-Infrastruktur und Schulung von professionellen Begleiter*innen (Ärzte, Pflegende, Jurist*innen) wird zunehmend wichtiger.




6. Fazit

Dieser neu geschriebene Artikel bietet einen aktuellen Überblick über die Sterbehilfe‑ / Freitodbegleitungszahlen in Deutschland von 2021 bis 2024, ihre Entwicklung und die ihnen zugrundeliegenden Diagnosen und Motivationen. Die in den letzten Jahren erfassten Zuwächse bei den Organisationen weisen auf eine wachsende strukturelle Umsetzung hin, bleiben jedoch – im Verhältnis zu den gesamten Suiziden – zahlenmäßig überschaubar.

Wichtig bleibt: Die Entscheidungen zum assistierten Freitod sind in der Regel komplex und multiperspektivisch motiviert – weit mehr als nur körperliches Leiden. Die Weiterentwicklung von Gesetz, Beratung, Transparenz und Forschung wird entscheidend sein, um ethisch vertretbare und menschlich angemessene Gestaltung zu ermöglichen.
Hier lohnt es sich den Filmbericht des ZDF / Arte / SpiegelTV  von vor wenigen Tagen sich anzuschauen (30 minütige Reportage)




Quellen:

Forschungsnetzwerk zur Sterbehilfe - Ergebnisse und die Umfrage des DFG-Netzwerks zur Sterbehilfe


FORSA - Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung für die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) e.V.

Psychische Erkrankungen und assistierter Suizid
Prof. Dr. med. Thomas Pollmächer - Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit und Vorsitzender der Ethikkommission am Klinikum Ingolstadt - Past-Präsident der DGPPN

Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) 

Pressekonferenz "DGHS-Suizidhilfe-Fallzahlen 2023, das richtige Medikament und die Rolle der Ärzt*innen" | 27.2.2024 in Berlin - Pressemappe

Verein Sterbehilfe - Jahresrückblick 2021 in Zahlen - Pressemitteilung


















Comments

Popular posts from this blog

Podcast-Tipp: Ärztlich assistierter Sterbehilfe – Erfahrungsbericht

Hilfe finden ...

Sterbehilfe - Organisation, Hilfe finden, Kosten

Sterbehilfe - Was ist erlaubt? - Wo ist es erlaubt?

Dr. Johann Spittler erneut wegen Totschlags vor Gericht - Jan 2025