Arzt leistete einem psychisch kranken Mann Sterbehilfe - Totschlag in „minderschweren Fall“

Eines vorweg - es ist nur 'Ein Urteil' - ein Urteil eines Essener Schwurgericht, des Landgericht Essen.

Es ist ein Urteil was aufzeigt wie gut man seinen Freitod vorbereiten, besprechen, dokumentieren muss um nicht Helfer*innen in Not oder gar in strafrechtliche oder berufsrechtliche Konflikte zu bringen.

Das Bild kreierte ich mit dem Gedanken an die römische Juristenweisheit „Vor Gericht und auf hoher See sind wir allein in Gottes Hand“, für mich symbolisiert diese juristische Zitat, die scheinbare Hilflosigkeit im Umgang mit Recht und Gesetz. Der Satz erinnert, wie in diesem Gerichtsverfahren an die menschliche Einflusslosigkeit und dass die See ohne Menschlichkeit und Gnade ist. Die Unwägbarkeiten einer juristischen Auseinandersetzung sind gerade in diesem Fall damit sprichwörtlich geworden.

Zum Gerichtsurteil ...

Das Gericht kam zu dem Schluss, dass es sich bei der Sterbehilfe um einen Totschlag in mittelbarer Täterschaft, Totschlag in einem minderschweren Fall (§§ 212, 213 STGB) handele und hat einen Arzt und Psychiater zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er einem psychisch Kranken beim Sterben half.
Es ist kann, muss nicht, zu einem Präzedenzfall werden. Auch wenn er rechtlich nicht unbedingt zu einem Präzedenzfall werden muss - so kann er als beispielhaftes, wegweisendes Vorbild für andere Situationen gelten.

Im Prozess stand der Einzelfall im Mittelpunkt. „Es ging nicht darum, Suizid und Sterbehilfe moralisch zu bewerten“, hieß es im Urteil. Die vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben Grenze eines assistierten Suizids sei jedoch erreicht, wenn die Freiverantwortlichkeit nicht gegeben ist.

Fragen die ich mir stelle ...

Die Staatsanwaltschaft und das Gericht sagen, dass durch die psychischen Erkrankungen (paranoid-schizophrenen Erkrankungen, depressiven Störung) des Sterbewilligen, sei der Sterbewillige nicht in der Lage gewesen, seinen Zustand richtig zu beurteilen. Da frage ich mich wie Staatsanwaltschaft und das Gericht das belegen, wenn der Arzt hingegen über Monate Gespräche geführt hat. Ich hoffe diese sind dokumentiert worden 'Fingers Crossed'.
Der Arzt hatte mit dem Sterbewilligen mehrere persönliche Gespräche. Infolgedessen erstellte er ein psychiatrisches Gutachten, das auf einer umfangreichen Bewertungsmatrix basierte, die er über viele Jahre selbst erstellt hatte. Spittler war voll und ganz davon überzeugt, dass der Sterbewillige sowohl während der Begutachtung als auch während seines Sterbezeitpunkt freiwillig handeln konnte. Er behält diese Überzeugung bis heute.

Der Richter befand das Gutachten des Arztes unklar und sagte das Gutachten wäre mit „unklaren“ Formulierungen versehen. Geleitet von dem Wunsch, die Ungleichbehandlung psychisch kranker Menschen zu vermeiden.
Ich betrachte den staatsanwaltlich beauftragten Gutachter besonders kritisch, da er den Sterbewilligen nie gesehen hat und sein Gutachten nur auf der Grundlage der Akten erstellen konnte. Laut der Verteidigung hat der Gutachter der Staatsanwaltschaft in seiner beruflichen Laufbahn noch nie mit dem Thema Sterbehilfe zu tun gehabt. Bisher habe der Sachverständige oft im religiösen und katholischen Bereich gearbeitet und für die katholische Kirche Gutachten zum Kindesmissbrauch in der Kirche erstellt. Die katholische Kirche hat sich bekanntlich öffentlich dagegen ausgesprochen, jede Art von Sterbehilfe zuzulassen, obwohl die Bibel und bekannte Kirchenvertreter neutral bis befürwortend zu einem würdigen Sterben stehen.
Daher halte ich es für kritisch, wenn ein Sachverständiger nur aufgrund der Einsicht in Akten, ohne den Menschen und damit die individuellen Worte und Gedanken zu hören und somit die Motive verstehen zu können - und der Gutachter der Staatsanwaltschaft mit der katholischen Kirche verbunden ist durch die häufige Zusammenarbeit.

Auch äußert sich Staatsanwaltschaft und das Gericht zur Augenkrankheit des Sterbewilligen - welche besonders dramatisch für den Betroffenen (Folge einer Kortison-Eigenbehandlung) da diese fast zur Erblindung führen könnte. Das Gericht sagte dazu: "diese soll nicht so gravierend gewesen sein, wie der Patient selbst annahm, was Unterlagen belegen würden. Die "Freiverantwortlichkeit" sei in diesem Fall nicht gegeben gewesen." 
Ich denke hier bedarf es Aufklärung für das Gericht - da ...

  • ... dies wohl eher zusammenspielt mit einer Wohlerwogenheit - und die Wertung einer Bedeutung und Einschränkung einer Krankheit und deren Folgen obliegt jedem Einzelnen und nicht Dritten - wie 'gravierend' etwas empfunden wird obliegt dem Patienten und Sterbewilligen.
  • ... ich mich frage, ob das Gericht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts - die Sterbehilfe ist nicht auf terminale Krankheitsbilder beschränkt - auch Lebenssattheit und andere Motive sind bzw. können freiverantwortlich und wohlerwogen sein

Berührt haben mich die Gedanken und Worte der Mutter - welche ich ähnlich bei den Freitoden die begleitete hörte ...

Seit etwa 13 Jahren leidet der Mann unter Schizophrenie. Er hatte bereits drei 'harte', brutale Suizidversuche unternommen und war mehrmals in einer stationären psychiatrischen Behandlung. Die Mutter berichtet davon, dass es Lichtblicke, aber keine dauerhafte Besserung gab. Die Mutter sprach von verzweifelten Hilferufen, Angst und absoluter Hoffnungslosigkeit. „Der Wunsch zu sterben, hat ihn nie wieder losgelassen.“ und sie zitierte ihren Sohn mit den Worten: „Mein Sohn sagte immer: Mama, ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich halte dieses Leben nicht mehr aus.“


Zusammenfassend ...

Totschlag in einem „minderschweren Fall“ mit straf-mildernden Umständen erkannte das Gericht deshalb an, weil der Arzt und Psychiater „aus Mitleid heraus“ gehandelt habe und nicht vorbestraft sei. Spittler hat auch aufgrund seines hohen Alters derzeit Haftverschonung.
Der Arzt will in Revision gehen. Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Diese Revision muss, meines Wissens, innerhalb von sieben Tagen nach Verkündung des Urteils eingelegt werden.

Nach Ansicht des Gerichts wird Sterbehilfe ab dem Punkt strafbar, an dem die Entscheidung zum Sterben nicht mehr frei getroffen werden kann - das sieht das Bundesverfassungsgericht ebenso - aber das Gericht in Essen sieht ganz offenbar diesen Punkt auch einen Punkt 'of no return' und genau hier liegt der Fehler.
Nur die aller wenigsten psychischen Erkrankungen haben einen solchen und selbst wenn sollte man dann nicht auch für diesen Vorsorge treffen können und sollte dann Hilfe bekommen? Geleitet wurde der Arzt von dem Wunsch, die Ungleichbehandlung psychisch kranker Menschen zu vermeiden. Dafür muss man Dr. Spittler Respekt zollen. Es geht um Gleichbehandlung, Gleichberechtigung für jeden!

Der Arzt war zu 100 % davon überzeugt, dass der Sterbewillige zum Zeitpunkt der Begutachtung und zum Zeitpunkt des Sterbens freiverantwortlich handelte. Nach Ansicht des Gerichts hat damals, der Arzt nach Ansicht der Kammer, die Grenze aus Mitleid "sehenden Auges" überschritten. Ja, ist es verwerflich mit 'offenen sehenden Auge' mit 'offenem fühlendem Herzen' nicht nur den Patienten sondern den Menschen und Menschlichkeit zu sehen? Es geht um Menschlichkeit und Würde!



In diesem Kontext

Freiverantwortlichkeit - Einsichtsfähigkeit, Urteilsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit


Artikel die auf Menschen mit psychische Erkrankungen eingehen ...

Suizid - Sterbehilfe und psychische Erkrankungen
Psychiatrische Patientenverfügung ergänzend zur Patientenverfügung
Depressionen sind nicht nur diffuse oder ungute Emotionen

Quelle zum Thema allgemein - bzw auch sehr lesenswert

Entscheidung des BVerfG zum Urteil vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15



Quellen zum Artikel:
Eigene Notizen + Mitschrift, WAZ, LG-Essen, WDR, DPA



Hilfe - Suizidprävention

Telefonseelsorge: Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de

Kinder- und Jugendtelefon: Das Angebot des Vereins „Nummer gegen Kummer“ richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die in einer schwierigen Situation stecken. Erreichbar montags bis sonnabends von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 – 111 0 333. Am Sonnabend nehmen die jungen Berater des Teams „Jugendliche beraten Jugendliche“ die Gespräche an. nummergegenkummer.de.

Muslimisches Seelsorge-Telefon: Die Mitarbeiter von MuTeS sind 24 Stunden unter 030 - 443 509 821 zu erreichen. Ein Teil von ihnen spricht auch türkisch. mutes.de

Hebräischsprachige Hotline "Matan": ‚Matan‘ ist ein Projekt der Beratungsstelle ‚OFEK‚ e. V. und der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST).  Telefonnummer: 0800  - 000 16 42  Hotline-Zeiten: Jeden Tag der Woche 20:00-22:00 - Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit der Kirchlichen Telefonseelsorge (KTS) durchgeführt und durch die Deutsche Fernsehlotterie gefördert.

Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention: Eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de









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